Verlieren die christlichen Kirchen in Deutschland und Europa die Nerven? Offensichtlich fühlen sich die Kirchen bedroht von einem erstarkten, selbstbewußten, offenen Atheismus und Agnostizismus. Wie sonst lassen sich die nahezu verzweifelten Versuche erklären, in denen Vertreter der Kirchen versuchen, mit verbalen Entgleisungen oder rechtlichen Mitteln gegen Konfessionslose vorzugehen?
Da wettert ein Herr Mixa über Atheisten (Atheologie.de) oder ein Herr Meisner wirft wieder mal mit Nazivergleichen um sich (DerWesten). Atheisten und Agnostiker zu beleidigen und zu verleumden ist einfach, macht Spaß und man wird nicht belangt, auch wenn man es, wie Bischof Müller, öffentlich von der Kanzel predigt (Schmidt-Salomon). Die Pointe: es wurde nun gerichtlich festgestellt, daß Predigten Lügen enthalten dürfen (Regensburg-Digital)
Ganz bissig wird die Kirche jedoch, wenn es darum geht, in die Sitten, Gebräuche und Lehre einzugreifen, so daß auch Menschen, die sich eigentlich nicht für diese Diskussionen interessieren, mitbekommen könnten, wie irrational auch heute im Jahr 2009 noch viele Riten und Gesetze sind.
Man denke zum Beispiel an das Tanzverbot. An und für sich eine Lappalie: da ist es verboten, an einigen Tagen im Jahr öffentlich zu Tanzen und Musik zu spielen (Süddeutsche Zeitung). Man könnte nun meinen, den Kirchgängern an Allerheiligen könnte es wurstegal sein, wenn im benachbarten Industriegebiet eine Disco im Untergeschoß wummert. Ist es aber nicht! Das Tanzverbot wird mit Händen und Füßen verteidigt. Warum? Öffentlichwirksamkeit! So belanglos das Tanzverbot auch klingen mag: Letztendlich wehrt sich die Kirche hier des Entzugs ihrer letzten Bastionen, in denen sie mit irrationalen Regeln das Leben der Menschen beeinflussen und unterjochen wollen. Denn rational ist dieses Gesetz nicht zu erklären – schließlich will ja kein Atheist in einer Kirche eine Hexenparty feiern!
Genauso war es mit dem für die Kirche verlorenen Streit um das „Ferkelbuch“ (Schmidt-Salomon), das auch in der Schweiz wieder für Schlagzeilen gesorgt hat (Tagesanzeiger). Das veröffentlichen atheistischer, extrem kirchenkritischer Bücher geht in Ordnung – aber sobald man etwas publiziert, was auch von Kindern oder größeren Gruppen der Bevölkerung gelesen werden könnte, versucht man mit allen Mitteln, dies zu unterbinden. Wie anders sind die Aktionen gegen die harmlose Zeichentrickserie „Popetown“ im Jahre 2006 (Süddeutsche Zeitung) zu erklären? Hier wurde eine bestenfalls etwas schräge, überzogene Zeichentrickserie nahezu satanisiert. Die nette, durchaus pointenreiche Serie als kirchenkritisch zu bezeichnen würde jeden ernsthaften Kirchenkritiker beleidigen. Warum also der Aufstand? Das Zielpublikum!
Genauso sind die verzweifelten Versuche zu interpretieren, mit dem in Berlin versucht wurde, Religion wieder tiefer in die Schulen hineinzudrücken (IBKA). Hier geht es der Kirche natürlich um den Einfluß auf die Kinder. Wer früh indoktriniert wird, tut sich um so schwerer, später logisch-rational zu denken.
Hand in Hand einher gehen hiermit die aktuellen Diskussionen um das erneute Kruzifixurteil. Bayerische Bischöfe und christliche Politiker (Süddeutsche Zeitung, Süddeutsche Zeitung) – Bayern verstößt und mit der Wimper zu zucken schließlich schon lange gegen ein entsprechendes Urteil des Bundesverfassungsgerichtes (Wikipedia) – sind einer Meinung mit Berlusconi: ohne Kruzifix in den Schulen wird wohl die Welt untergehen. Es bleibt zu hoffen, daß auch in Bayern konfessionslose Eltern auf ihrem Recht bestehen, die Schulkreuze in den Klassenzimmern ihrer Kinder abhängen zu lassen.
Möglicherweise sind alle diese Beispiele Zeichen eines letzten Aufbäumens der Kirchen, bevor sie in Europa aufgrund des stetigen Mitgliederschwundes (Bild) nur noch ein Nischendasein führen. Oder haben wir von einer Erstarkung der Kirchen auszugehen? Eventuell wird es auch eine noch stärke Aufspaltung geben in fundamentale Christen auf der einen Seite und Oster- und Weihnachtschristen sowie Konfessionslose auf der anderen Seite.
Tatsache ist, daß auf dem Feld der christlichen Morallehre zumindest in Deutschland kein Blumentopf mehr zu gewinnen ist. Wer kennt noch die Regeln des katholischen Katechismus – und hält sich auch noch daran? Sex vor der Ehe, Kondome, Genforschung – das wird alles in unserer Gesellschaft heute wie selbstverständlich gelebt – und das ist auch gut so!
Wenn Mixa, Meisner, Berlusconi und die anderen reißerischen Verfechter einer idealen christlichen Kultur, die so aktuell glücklicherweise längst nicht mehr existiert, die Aggressivität des Neuen Atheismus beklagen, dann wehren sie sich gegen Menschen, die sich endlich trauen, in klaren Worten Ihre Meinung auf den Tisch zu legen und auch im öffentlichen Leben ihre Haltung darstellen. Sowenig wie ein Nichtraucher ein Anti-Raucher sein muß, so wenig sind Atheisten „Anti-Theisten“. Aber wie Nichtraucher bestehen wir darauf, die gleichen Rechte zu haben, und fordern das Ende der Privilegierung von Religionen gegenüber anderen Weltanschauungen. Man könnte vermuten, daß sich die polemischen Redner der Religionen genau das wünschen: aggressive Atheisten und Agnostiker, die ein gut zu gebrauchendes Feindbild abgeben. Nur zu dumm für die Kirchen, daß sich die Aggressivität der Freidenker auf rationale Diskussionen, logische Darstellung der Argumente und satirische Artikel beschränkt. Wer dies für Aggressivität hält, der sollte lieber im Sandkasten spielen. Letztendlich muß jeder für sich entscheiden, was aggressiver ist: das Eintreten für Tanzen, Spaß und Freude auch an Allerheiligen und Karfreitag oder geifernde Nazivergleiche gegenüber der Zahlenmäßig größten Bevölkerungsgruppe in Deutschland, den Konfessionslosen.