In seiner Rede vor dem deutschen Bundestag am 22. September 2011 betonte Joseph Ratzinger gleich am Anfang, daß er aufgrund seiner Eigenschaft als „Papst, als Bischof von Rom“ eingeladen wurde. Es ist anzuerkennen, daß er somit offen zugibt, was mancher deutscher Politiker mit formellen Verrenkungen zu umschiffen suchte: der Papst ist aufgrund seiner religiösen Bedeutung eingeladen worden, nicht weil er Staatsoberhaupt des Vatikans ist.
Ratzinger möchte in seiner Rede „die Grundlagen des freiheitlichen Rechtsstaates vorlegen“. Die Politik müsse „Mühen um Gerechtigkeit sein und so die Grundvoraussetzung für Friede schaffen“. Als roter Faden zieht sich durch seine Rede, wie der Mensch „Gut von Böse“ unterscheiden könne – und stellt damit eine naiv-religiöse Sicht auf die Welt dar. Aus der katholischen Sicht verständlich, denn nur wenn „das“ Gute und „das“ Böse auch tatsächlich existieren, macht die katholische Lehre von Gott und Satan einen Sinn.
Ratzinger betont, daß der Mensch sich heute selbst „manipulieren“ und „Menschen vom Menschsein ausschließen“ könne. Man muß hinterfragen: sind dies wirklich Eigenschaften unserer heutigen Zeit? Nein! Es ist vielmehr so, daß in historischen Zeiten Menschen wesentlich inhumaner waren! Wir können Stolz sein auf unser heutiges demokratisches, humanes Europa! Noch nie gab es eine so lange friedvolle Periode in Europa wie zu unserer Zeit. Ratzinger versucht in seiner Rede eine Brücke zu bauen von der seiner Meinung nach möglichen Zerstörung der Welt und der wissenschaftlichen, medizinischen Forschung, die er subversiv mit dem negativ belasteten Wort „manipulieren“ umschreibt. Trotz aller bekannter Probleme: noch nie ging es den Menschen in Europa so gut wie heute; daran können auch Schlechtredner wie Ratzinger nichts ändern.
Rhetorisch nicht ungeschickt baut Ratzinger in seiner Rede ein Drohszenario auf: Der Mensch könne „die Welt zerstören“. Gleich darauf betont er, daß bei Entscheidungen zur Würde des Menschen „das Mehrheitsprinzip nicht ausreicht“. Dies ist jedoch nicht „offenkundig“, wie Ratzinger behauptet: man betrachte die verschiedenen Staaten der Welt: Es ist hier eher offenkundig, daß demokratische Staaten die Menschenwürde respektieren, während undemokratische Staaten fragwürdige bis verabscheuungswürdige Praktiken an den Tag legen. Es läßt sich also eher vermuten, daß demokratisches Herangehen an Menschenrechte und Menschenwürde vielversprechender sind. Wir können froh sein, daß unser deutsches Grundgesetz und mit ihm die Menschenrechte in einem demokratischen Prozeß enstanden sind! Letztendlich spricht Ratzinger mit dieser These dem deutschen Parlament die Entscheidungsfähigkeit zu wichtigen staatlichen Thema ab und kritisiert auch indirekt zum Beispiel die Abstimmung des deutschen Bundestags über die Präimplantationsdiagnostik (PID). Das muß sich ein deutsches Parlament von einem Staatsoberhaupt sagen lassen, dessen Staat, der Vatikan, die UN-Menschenrechtscharta bisher nicht formell anerkannt hat!
Ein Ausflug in die Notwendigkeit der Ökologie bietet Ratzinger die Möglichkeit, auf die Wichtigkeit der „Natur“ hinzuweisen. Er überträgt die Ökologie und ihren Respekt vor der Natur auf den Menschen: dieser solle auf die Natur hören. Wenn wir unsere nächsten tierischen Verwandten, die Affen, ansehen, sollten wir eher froh sein, daß wir unser „natürliches“ Verhalten abgelegt haben: hier wird, würde man diese tierischen Verhaltensweisen auf den Menschen übertragen, gemordet, betrogen und vergewaltigt. Glücklicherweise, glücklicherweise haben wir Menschen uns über dieses „natürliche“ Verhalten erhoben und uns ethische Regeln gegeben, die uns helfen zu entscheiden, welche Verhaltensweisen aus der Natur gut und welche schlecht für unsere Gesellschaft sind!
In der zweiten Hälfte seiner Rede versucht Ratzinger einen Gottesbeweis: „Ist es wirklich sinnlos zu bedenken, ob die objektive Vernunft, die sich in der Natur zeigt, nicht eine schöpferische Vernunft, einen Creator Spiritus voraussetzt?“ Er benutzt hier eine ähnlich naive Argumentationskette wie Befürworter des Kreationismus – es fehlte nur noch der Hinweis auf den Uhrmacher – und ignoriert die lange bekannten philosophischen Gegenargumente. Auch die Behauptung, eine Ethik könne dem Menschen nur durch Gott gegeben werden, darf nicht fehlen. Wie schon oben dargelegt, sollten wir froh sein, daß wir in einem demokratischen Staat leben, dessen Regeln eben nicht von einer Religion diktiert wurden! Ethische Regeln leben davon, daß Menschen – Menschen! – diese Regeln immer wieder hinterfragen und, wenn nötig, ändern oder ergänzen. Ein vereinfachender Absolutheitsanspruch einer Religion, für die eine Sache auf ewig immer „böse“, und eine andere immer „gut“, ist in einer komplexen menschlichen Gesellschaft fehl am Platze. Ratzingers Kritik gipfelt in einem herben Vorwurf gegen unsere rationale, vernünftige europäische Gesellschaft: „Ich sage das gerade im Hinblick auf Europa, in dem weite Kreise versuchen, nur den Positivismus als gemeinsame Kultur […] anzuerkennen, alle übrigen Einsichten und Werte unserer Kultur in den Status der Subkultur verwiesen und damit Europa gegenüber den anderen Kulturen der Welt in einen Status der Kulturlosigkeit gerückt […] werden“. Europa? Kulturlos? Wie kann man so anmaßend sein. Wir sollten Stolz sein auf unsere starke, humane, demokratische, vielfältige europäische Kultur! Welche Kreise Ratzinger meint, bleibt offen – zumindest in dieser Rede vor dem deutschen Parlament.
Zum Schluß noch ein paar Gedanken zu dem, was Ratzinger nicht gesagt hat: Kein Wort zu den staatlichen Beziehungen zwischen Deutschland und dem Vatikan. Dies ist nur konsequent, da er sich auch in seiner Eigenschaft als Papst eingeladen fühlt, eben nicht als Staatsoberhaupt. Keine Erwähnung der Probleme der katholischen Kirche, die in Deutschland aktuell die Presse beschäftigen: die fragwürdige arbeitsrechtliche Sonderstellung der Kirchen und ihrer Institutionen, den Mißbrauch von Kindern durch Kirchenbedienstete, die Mißhandlungen in den Kinderheimen. Kein Wort zu kirchlichen Themen, die die Deutschen Bürgerinnen und Bürger beschäftigen, wie Ökumene, Zölibat oder die katholische Sexuallehre. Dies war aber natürlich auch nicht zu erwarten.
Zusammenfassend ist die Rede von Ratzinger auf den ersten Blick zurückhaltend, offensichtlich ist er sehr bemüht, strittige Themen nicht beim Namen zu nennen. Zum Teil ist er sogar offen: für ihn basiert unsere Kultur auf der „vorchristlichen Verbindung von Recht und Philosophie“, dem „christliche[n] Mittelalter“ sowie auf der „Rechtsentfaltung der Aufklärungszeit bis hin zur Erklärung der Menschenrechte und bis zu unserem deutschen Grundgesetz“. Eine differenzierte Darstellung, die man sich von manchen deutschen, christlichen Politikern, die von einer jüdisch-christlichen Kultur in Deutschland sprechen, auch wünscht. Ratzinger betont sogar, daß „Ethos und Religion […] aus dem Bereich der Vernunft [fallen]“ und respektiert die wissenschaftliche Forschung. Reflektiert man jedoch seine Aussagen, kann man, wie dargestellt, herbe Kritik, wie die Kulturlosigkeit Europas, sowie naive religiöse Vorstellungen, wie „das Gute und das Böse“ nicht übersehen. Ratzingers Rede ist somit, wie erwartet, maximal ein kleiner Aufreger, aber auch nichts neues.
Ergänzung vom 10. Oktober 2011: Auf den Seiten des hpd findet sich eine Stellungnahme von David Berger, die vor allem Ratzingers Verweis auf das Naturrecht als gefährlich ansieht: „Eine brandgefährliche Rede“ . Ebenso interessant: Reaktionen von freundlichen Christen auf Rolf Schwanitz‘ Kritik: Was Papst-Fans Kritikern zu sagen hatten .
Die Rede im Wortlaut: Berliner Morgenpost